Der NSU-Komplex im Kontext deutscher und sächsischer Verhältnisse

KeinSchlussstrich! – NSUKomplex auflösenAm 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der NSU-Prozess. Voraussichtlich im Frühjahr 2018 wird der Prozess nach über 400 Verhandlungstagen zu Ende gehen. Längst aber ist offenkundig, dass die auf wenige Einzelverdächtige konzentrierten Verhandlungen mehr Fragen als Antworten hinterlassen. Die versprochene „lückenlose Aufklärung“ bleibt schon hinsichtlich der Unterstützungsnetzwerke des NSU oder der Verstrickungen von Verfassungsschutz und V-Leuten systematisch unerfüllt. Das Ende eines Gerichtsprozesses – der selbst einer kritischen Aufarbeitung bedarf – kann und darf daher keinen Schlussstrich unter die Aufgabe einer Aufarbeitung des NSU-Komplexes bedeuten. Der NSU-Komplex umfasst mehr als die Mord- und Terrorserie des NSU und das multiple Versagen der Ermittlungs-, Sicherheits- und Justizbehörden bei deren Aufklärung. Denn der NSU entstand nicht im luftleeren Raum. Er steht in einer langen Tradition organisierter rassistischer Gewalt und rechten Terrors, auf die Medien, Behörden, Politik und Mehrheitsgesellschaft oft genug mit Bagatellisierung, Problemverdrängung oder mit ihrerseits rassistischen Denk- und Handlungsmustern gegenüber den Opfern und Betroffenen reagierten.Die Verhältnisse und Strukturen – die auch den NSU ermöglichten – sind kein isoliertes Problem eines ‚recht Randes‘. Sie durchziehen die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ und die medialen und staatlichen Institutionen. Die Beispiele dafür reichen von den ‚Wehrsportgruppen‘ seit den 1970er Jahren, über die Pogrome der 1990er Jahre, auf die die Politik mit der faktischen Abschaffung des Asylrechtes reagierte, bis zu jüngsten militant-neonazistischen Gruppierungen – wie der „Gruppe Freital“ und anderen ‚Bürgerwehren‘.

Gerade in Sachsen, das dem NSU über Jahre einen sicheren Rückzugsort und eine Operationsbasis bot und das ein Brennpunkt rassistischer Gewalt, neonazistischer Strukturen und eines allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsrucks bleibt, wollen wir uns dem bundesweiten Aufruf Kein Schlussstrich! – NSU Komplex auflösen anschließen. Eine Reihe von Veranstaltungen und Aktionen in Dresden soll dabei mit verschiedenen Themenschwerpunkten zur unabgegoltenen Aufgabe der Aufarbeitung und Auflösung des NSU Komplexes und zur Mobilisierung zu Protesten anlässlich der anstehenden Urteilsverkündung im NSU-Prozess beitragen.

In Gedenken an:
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter.

Die Veranstaltungen

08.03. 2018 // 19 UHR // MOTORENHALLE DES RIESA EFAU (Wachsbleichstraße 4a, 01067 Dresden), Impulsvorträge und Diskussion mit Hannah Zimmermann; Lee Hielscher; Robert Enge; Tino Heim; Jane Viola Felber

KEIN SCHLUSSSTRICH! – PERSPEKTIVEN, PARADOXIEN UND GRENZEN DER AUFARBEITUNG DES NSU-KOMPLEXES

Die Veranstaltung wirft einen kritischen Blick auf Ergebnisse, Widersprüche und Grenzen der bisherigen juristischen, politischen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Bemühungen um eine Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Angesichts jüngster Entwicklungen rassistischer und neonazistischer Gewalt und der Kontinuitäten vielfältiger Formen des strukturellen und institutionellen Rassismus in Behörden, Medien und Gesellschaft steht dabei auch zur Diskussion, wie eine weitgehend noch ausstehende adäquate Aufarbeitung dazu beitragen könnte, die vielschichtigen Ursachen und Konstellationen rassistischer Gewalt nicht nur zu benennen, sondern zu überwinden.


14.03.2018 // 19 UHR // PROJEKTTHEATER (Louisenstraße 47, 01099 Dresden), Vortrag von NSU Watch Sachsen

MIT ANGEZOGENER HANDBREMSE? – DER NSU-UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS IN SACHSEN

Bald drei Jahre bemüht sich der zweite sächsische Untersuchungsausschuss um Aufklärung im NSU-Komplex. Über vierzig Zeugen*innen wurden bisher vernommen, drei Schwerpunkte untersucht: Die Ermittlungen rund um den Brand in der Frühlingsstraße, die Raubüberfälle, sowie die Fahndung nach den drei untergetauchten Nazis in Sachsen. Grund genug zu fragen: Was hat es gebracht? Welche Erkenntnisse konnten gewonnen werden, wo gibt es blinde Flecken und offene Fragen? Welche Folgen hat das für Politik und Gesellschaft? NSU Watch Sachsen begleitet den Untersuchungsausschuss von Anfang an und wird dessen Arbeit unter die Lupe nehmen.


20.03.2018 // 20 UHR // MALOBEO (Kamenzer Str. 38, 01099 Dresden), Filmvorführung

„DER KUAFÖR AUS DER KEUPSTRAßE“

Am 9. Juni 2004 verübt der NSU einen Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln. Dabei werden 22 Menschen verletzt – vier davon schwer. Während ein rassistischer Hintergrund kategorisch ausgeschlossen wird, ermittelt die Polizei sofort und ausschließlich gegen die Betroffenen. Die einseitigen und rassistischen Ermittlungen behandeln Opfer als Täter. Medien und Öffentlichkeit flankieren dies mit einer mit Klischees überladenen Diskussion über angeblich „kriminelle Ausländermilieus“. Der Dokumentarfilm zeigt, welche Auswirkungen dieser Anschlag und die mit rassistischen Ressentiments aufgeladene Ermittlungsarbeit der Polizei, auch Jahre nach dem Vorfall, auf die Betroffenen hatte.


26.03.2018 // 20 UHR // KOSMOTIQUE (Martin-Luther-Str. 13, 01099 Dresden), Lesung und Gespräch mit Nebenklageanwalt Peer Stolle

KEIN SCHLUSSWORT: NAZI – TERROR, SICHERHEITSBEHÖRDEN – UNTERSTÜTZERNETZWERK – PLÄDOYERS IM NSU-PROZESS

Die im Buch veröffentlichten Plädoyers im Münchner NSU-Prozess gehen den bohrenden Fragen der Betroffenen nach und zeigen, wo die Aufklärung weitergehen muss. Denn viele Fragen blieben bislang unbeantwortet: Wie erfolgte die Auswahl der Opfer? Wie groß war das an den Morden und Anschlägen beteiligte Unterstützernetzwerk? Was wussten die Sicherheitsbehörden – insbesondere der Verfassungsschutz – und warum wurde seitens des Staates nicht eingegriffen? Wie konnte der NSU überhaupt entstehen?

Diesen und anderen Fragen gehen in diesem Band vier vom NSU-Terror Betroffene und acht Nebenklagevertreter*innen in ihren Plädoyers nach.


03.04.2018 // 19 UHR // FRAUEN*BILDUNGSZENTRUM (Oskarstr. 1, 10219 Dresden), Diskussion

‚ZÄRTLICHE KATZENMAMA‘, ‚TERRORBRAUT‘ UND `UNWISSENDE HAUSFRAUEN‘ – GESCHLECHTERSTEREOTYPE UND DAS (UN-)VERSTÄNDNIS DES NSU-KOMPLEXES

Im Fokus der medialen Aufmerksamkeit zum NSU-Prozess stand oft die Figur Beate Zschäpe und mit ihr eine problematische Ansammlung von Geschlechterklischees. Anhand von Ausschnitten aus Filmen und Fernsehdokumentationen diskutieren wir u.a., wie Geschlechterstereotype in den (Selbst-)Darstellungen rechtsradikaler Frauen zur Entpolitisierung und Bagatellisierung rechte Gewalt beitragen. Inwiefern hat dies die NSU-Verbrechen mit ermöglicht und wie behindern solche Stereotype ein Verständnis des NSU-Komplexes?


05.04.2018 // 20 UHR // KINO IM KASTEN (August Bebel Straße 20, 01219 Dresden), Filmvorführung und Diskussion

„JORGE – TOT EINES VERTRAGSARBEITERS“

Am 06.04.1991 wurde Jorge Gomondai in der Dresdner Neustadt von mehreren Neonazis angegriffen. Er starb an seinen Verletzungen. Die Dokumentation thematisiert den rassistisch motivierten Angriff auf Jorge Gomondai, befragt Zeug*innen und analysiert die Zustände in Dresden und Deutschland nach der Tat.

In der Diskussion sollen Parallelen zu weiteren rassistischen Taten aufgezeigt und deutlich gemacht werden, warum ein Vergessen nie stattfinden darf.


11.04.2018 // 20 UHR // PLATZDA (Wernerstraße 21, 01159 Dresden), Vortrag mit Tino Heim

DER NSU-KOMPLEX UND DER (NEO)RASSISTISCHE KONSENS

Die laute mediale Skandalisierung der Morde und Terroranschläge des NSU sowie des multiplen ‚Behördenversagen‘ bei der Aufklärung der Taten als ‚beispiellos‘, ‚unerhört‘ und ‚unfassbar’ verdeckt nur, dass all dies durchaus beispielhaft für viele Fälle organisierter rassistischer und neonazistischer Gewalt und für den gesellschaftlichen Umgang damit steht. Vortrag und Diskussion fragen nach den Formen und Ursachen eines breiten (neo-)rassistischen Konsens in Medien, Politik, Institutionen und Alltagsleben. Dabei geht es auch um die Kontinuität jener Verhältnisse, die auch den NSU-Komplex mit ermöglicht haben.