deutschland im herbst

May ayim: deutschland im herbst (1992)

es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es
erst zuerst dann wieder

so ist es

kristallnacht:
im november 1938
zerklirrten zuerst
fensterscheiben
dann
wieder und wieder
menschenknochen
von juden und schwarzen und
kranken und schwachen von
sinti und roma und
polen von lesben und
schwulen von und von
und von und von
und und

erst einige dann viele

immer mehr:
die hand erhoben und mitgemacht
beifall geklatscht
oder heimlich gegafft
wie die
und die
und der und der
und der und die
erst hin und wieder
dann wieder und wieder

schon wieder?

ein einzelfall:
in november 1990 wurde
antonio amadeo aus angola
in eberswalde
von neonazis
erschlagen
sein kind kurze zeit später von einer
weißen deutschen frau
geboren
ihr haus
bald darauf
zertrümmert

ach ja

und die polizei
war so spät da
daß es zu spät war
und die zeitungen waren mit worten
so sparsam
daß es schweigen gleichkam
und im fernsehen kein bild
zu dem mordfall

zu dem vorfall kein kommentar:

im neuvereinten deuschland
das sich so gerne
viel zu gerne
wiedervereinigt nennt
dort haben
in diesem und jenem ort
zuerst häuser
dann menschen
gebrannt

erst im osten dann im westen
dann
im ganzen land

erst zuerst dann wieder

es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es

so ist es:
deutschland im herbst
mir graut vor dem winter

 

aus „blues in schwarz weiß“ von May Ayim, erschienen 1995 im Orlanda Frauenverlag. May Ayim war Mitherausgeberin von „Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“, was Anlass dazu gab, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland zu gründen. Sie war Lehrbeauftragte an Berliner Hochschulen und veröffentlichte zahlreiche Gedichte und Essays. In Berlin konnte eine Straße nach ihr benannt werden.