Fremdes angeeignet, kartografiert und aufgeschrieben

Die Dresdner Landesbibliothek als Speicher kolonialen Wissens

Die postkoloniale Theorie brachte vor allem eine grundlegende Erkenntnis: Nämlich die, wie bedeutend Wissen war und ist. Legitimation, Ausgestaltung und Aufrechterhaltung des (Post)Kolonialismus sind undenkbar ohne spezifische Wissensformen, allen voran der Rassentheorie, die ab dem 17. Jahrhundert von europäischen Gelehrtenkreisen entwickelt wurde.1 Die Ergebnisse von Entdeckungsreisen und Eroberungsfahrten wurden in Reiseberichten, Karten und publizistischen Formen veröffentlicht und so verbreitet. Dabei entstand das Bild der radikal Anderen, „Exotischen“, und mit ihm das Eigenbild von den zivilisierten, normalen, weißen Europäer_innen. Die Aufklärung, die im 18. Jahrhundert entstand, und die Moderne, die in ihre Fußstapfen trat, sind ohne die Projektionsfläche der „Neuen Welt“ nicht denkbar.2

Vor diesem Hintergrund wird die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) interessant, Dresdens größte wissenschaftliche Bibliothek. Als Nachfolgerin der kurfürstlichen Bibliothek blickt sie auf eine fast fünfhundertjährige Geschichte zurück.3 Sie entstand in der Mitte des 16. Jahrhunderts, gut fünfzig Jahre nach der Entdeckung – oder wohl besser: Erfindung4 – Amerikas durch Christoph Kolumbus. Von Anfang an war sie Speicher- und Verbreitungsort von kolonialem Wissen. Zum einen wurden Artefakte angekauft und aufbewahrt, die aus Kolonien stammen. Prominentestes Beispiel ist der Dresdner Maya Codex. [Abb. 1] Zum anderen wurden wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Arbeiten gesammelt und zugänglich gemacht, die im Kontext des Kolonialismus entstanden. Sie ist damit Teil einer ganzen Reihe von Dresdner Institutionen, in denen „reizvoll-exotisches“ gesammelt und ausgestellt wurde. Exemplarisch seien die Türkische Kammer, das Grüne Gewölbe oder später das Völkerkundemuseum genannt.

Der Maya-Codex und andere „Merckwürdigkeiten“ der kurfürstlichen Bibliothek

Im Zuge von Barock, Frühaufklärung und Absolutismus entdeckten die sächsischen Kurfürst_innen im 18. Jahrhundert ihre Bibliothek neu. Nach Jahren des Schattendaseins wurde sie – wie auch die Kunstsammlungen – zum Mittel, die eigene Macht zur Schau zu stellen: „Seit der Renaissance sammelten und präsentierten Fürsten und Könige in Schatz- und Wunderkammern, was ihnen aus fernen Ländern erreichbar, kurios und kostbar war. Während die Regent_innen Künstler beauftragten, ihr Ansehen und ihren Ruhm zu verbreiten und der Nachwelt zu vermitteln, sammelten sie gleichzeitig das Wissen der Welt aus anderen Ländern und Kontinenten, um es sich nutzbar zu machen.“5 Mit dem Zwinger erhielt die Bibliothek im Jahre 1728 einen repräsentativen Ort, der Platz für weitere Ankäufe bot. Im Auftrag der Kurfürst_innen wurden Bücher aus Nachlässen erworben, wie etwa Teile der Bibliothek von Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz. So gelangte im Jahre 1718 eine achteckige Koranhandschrift aus dem arabischen Raum in den Besitz der kurfürstlichen Bibliothek, die bis heute im Buchmuseum der SLUB zu sehen ist. Darüber, wie sie ihren Weg nach Sachsen fand, ist nichts bekannt. Ihre Anschaffung passt aber zur Orientbegeisterung, zur „Turkomanie“, die den Dresdner Hof genauso wie andere europäische Adelssitze seit dem 17. Jahrhundert erfasst hatte.6 In Wien erwarb der 1734 eingestellte Bibliothekar und Hofkaplan Johann Christian Götze im Jahre 1739 ein „unschätzbares Mexicanisches Buch mit Hieroglyphischen Figuren“7, das die spätere Forschung als Maya-Kalender identifizierte. Wie der Wiener Händler genau in den Besitz der Schrift kam, war auch Götze nicht bekannt.8 Wahrscheinlich ist, dass Hernando Cortés ihn als Raubgut von einer Eroberungsreise 1519 an den spanischen Hof brachte.9 Die Maya-Handschrift wird bis heute im Dresdner Buchmuseum gezeigt, zuletzt in einer Sonderausstellung 2012 – ohne dabei ausführlicher auf den Stellenwert als Zeugnis der kolonialen Sammelwut einzugehen.10 Der schlechte Zustand des Codex macht eine Rückgabe an Mexiko bzw. Guatemala wohl mittlerweile unmöglich11, immerhin wurde im Jahre 2007 aber eine originalgetreue Kopie an den Präsidenten von Guatemala-Stadt übergeben.12

Koloniales Wissen und der Rassismus der Aufklärung

Neben materiellen Gütern waren die geistigen Eliten seit der frühen Neuzeit zunehmend an Wissen über „das Fremde“ interessiert. Zum beliebten Medium immer größerer Leser_innenschichten wurde der Reisebericht, dessen Themenkreis sich nicht zuletzt unter dem Druck des Marktes stetig erweiterte. Gekauft wurden neue, möglichst „exotische“ und spannende Geschichten.13 Gleichzeitig etablierte sich mit der Aufklärung die Theorie von der Universalität der Menschheit, der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen.14 Die Ungleichbehandlung in der kolonialen Praxis konnte unter dieser Prämisse nur dadurch aufrechterhalten werden, den Kolonisierten das Menschsein abzusprechen oder Abstufungen auf einer Skala von „mehr“ oder „weniger Mensch“ vorzunehmen.15 Dies war die Geburtsstunde des modernen – nicht zuletzt pseudowissenschaftlich fundierten – Rassismus. Als ,Beleg‘ dienten zum einen Menschen aus den Kolonien, die verschleppt und als wissenschaftliches Anschauungsmaterial missbraucht wurden.

Zum anderen aber Berichte von Reisen, die den Anspruch hegten, die „Fremde“ unverfälscht und exakt abzubilden. Reiseliteratur und Atlanten stellten die Welt als verfüg- und beherrschbar dar, definierten noch zu erforschende und kategorisierende „weiße Flecken“16 und weckten exotisch inspirierte Sehnsüchte. Die Altbestände der SLUB sind voll von derartigen Schriften – zugänglich sind etwa 2.300 Reisebeschreibungen aus vier Jahrhunderten17. Hinzu kommen biologische Abhandlungen sowie politik- und rechtswissenschaftliche Werke. Für einen ersten Einblick in die koloniale Reiseliteratur eignet sich Johann Joachim Schwabes von 1747 bis 1774 in Leipzig erschienene und mit 21 Bänden besonders umfangreiche Sammlung von Expeditionsberichten „Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande“18. Das Werk war vorher schon in England und Frankreich ein ,Bestseller‘, Schwabe übersetzte es für das deutsche Publikum aus dem Englischen. Es erzählt in monumentaler Weise die Geschichte der ,heroischen‘ weißen Entdecker, die sich auf ,humane Weise‘ eine feindselige Umgebung untertan machten. [Abb. 2] Auch in Dresden blieb es nicht nur beim Sammeln von Reiseberichten anderer. August der Starke beauftragte den Mediziner Johann Ernst Hebenstreit im Jahre 1731 mit einer Forschungsreise nach Nordafrika.19 Berichte davon sind in Johann Bernoullis „Sammlung kurzer Reisebeschreibungen und anderer zur Erweiterung der Länder- und Menschenkenntniß dienender Nachrichten“ von 1781 bis 1784 überliefert.20

Die SLUB ist somit, anders als es auf den ersten Blick scheint, einer der bedeutendsten Orte für eine Auseinandersetzung mit (nicht nur) Dresdens kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart. Sie bietet einen Einblick in die Entstehung und Überlieferung kolonialer Denkmuster und stellt, dies sei nebenbei bemerkt, immer mehr auch die nötige Literatur zur Verfügung, um diese zu dekonstruieren.

Jacob Nuhn

1Vgl. I. Kerner: Postkoloniale Theorien, Hamburg 2012, S. 28.

 

2C. Geulen: Geschichte des Rassismus, München 2007, S. 44f.

 

3Zur Geschichte der SLUB siehe besonders: T. Bürger: Wandel und Kontinuität in 450 Jahren. Von der kurfürstlichen Liberey zur Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 55 (2006), Heft 1/2, S. 29-36.

 

4Vgl. die Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Walter Mignolo, der die Rede von der „Entdeckung“ und die Benennung des Kontinents in „Amerika“ als diskursive Machtaneignung durch die Kolonisatoren beschreibt. Vgl. I. Kerner: Postkoloniale Theorien, S. 92.

 

5T. Bürger: Schicksal und Glanz des Dresdner Maya-Codex. In: N. Grube: Der Dresdner Maya-Kalender. Der vollständige Codex, Freiburg/Basel/Wien 2012, S. 9.

 

6Dies zeigt sich prominent mit der „Türkischen Kammer“ und dem Grünen Gewölbe auch in den Kunstsammlungen. Vgl. hierzu L. Bilgic/M. Fabian/C. Schwetasch/R. Stock: Dresdner Orientalismus, in: R. Lindner/J. Moser (Hg.): Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenz (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 16), Leipzig 2006, S. 209-220.

 

7Zitiert nach: T. Bürger: Schicksal und Glanz, 2012, S. 10.

 

8Ebd., S. 11.

 

9N.Grube: Der Dresdner Maya-Codex. In: Ders.: Der Dresdner Maya-Kalender. Der vollständige Codex, Freiburg/Basel/Wien 2012, S. 23f.

 

10Als Beleg sei auf den online verfügbaren Ausstellungskatalog verwiesen, der diese Frage weitestgehend ausblendet: http://www.slub-dresden.de/ueber-uns/buchmuseum-veranstaltungen/ausstellungen-veranstaltungen/ausstellungen-in-der-slub/archiv-der-ausstellungen/ausstellungen-2012/weltuntergang-2012-ausstellungskatalog/ [aufgerufen am 02.01.2014].

 

11Vgl. den Kommentar von SLUB-Direktor Thomas Bürger zu zwei entsprechenden Gästebucheinträgen im Rahmen der Codex-Ausstellung 2012 in: T. Bürger: Cool. Aus dem Besucherbuch zur Maya-Ausstellung. In: BIS. Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen 2012, Heft 2, S. 118f. Online unter: http://www.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/8970/BIS2_12_Buerger_Maya.pdf [aufgerufen am 02.01.2014]

 

12Guatemala erhält Kopie der Codex Dresdensis, auf sz-online.de, http://www.sz-online.de/nachrichten/kultur/guatemala-erhaelt-kopie-der-codex-dresdensis-1774995.html [aufgerufen am 02.01.2014]

 

13Vgl. P. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 1989, S. 38.

 

14C. Geulen: Geschichte des Rassismus, S. 50-52.

 

15Vgl. P. Brenner: Die Erfahrung der Fremde, S. 26f.

 

16Ebd., S. 50.

 

17G. Zimmermann: [Art.] Geographie. In: T. Bürger/K. Herrmann (Hg.): Das ABC der SLUB. Lexikon der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Dresden 2006, S. 92.

 

18Alle 21 Bände sind in der SLUB unter der Signatur Geogr.B.144 zugänglich. Die ersten vier Bände liegen auf der Website der UB Heidelberg digitalisiert vor: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/schwabe1748ga [aufgerufen am 02.01.2014].

 

19Zu dieser Forschungsreise und zur Ägyptenbegeisterung Augusts des Starken siehe: D. Syndram: Die Ägyptenrezeption unter August dem Starken. Der „Apis-Altar“ Johann Melchior Dinglingers, Mainz 1999, S. 49.

 

20Die Bände sind in der SLUB unter der Signatur Geogr.B.0452 einsehbar und zusätzlich digital verfügbar: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/http%3A%2F%2Fdigital.slub-dresden.de%2Ffileadmin%2Fdata%2F373301219-17831000%2F373301219-17831000_anchor.xml/1/cache.off [aufgerufen am 02.01.2014].