Der sächsische Traum von der asiatischen Ferne

Schloss Pillnitz

„Die bedeutendste chinoise Schlossanlage Europas“1 oder der „zarte Duft eines orientalischen Märchens“?2 Mit solchen und ähnlichen Formulierungen locken zahlreiche Stadt- und Reiseführer immer mehr Tourist_innen in die wenige Kilometer östlich von Dresden gelegene Schloss- und Gartenanlage Pillnitz. Obwohl es an einladenden Beschreibungen des in der sächsischen Elblandschaft tatsächlich ein wenig ‚fremd‘ wirkenden Schlosses nicht mangelt, wird diese Fremdheit eher selten mit der Asienbegeisterung des 18. Jahrhunderts und dem damit einhergehenden Weltbild einer ‚primitiven‘ Ferne in Verbindung gebracht. Das unmittelbar an der Elbe gelegene Ensemble geht in seiner heutigen Form im Wesentlichen auf einen von August dem Starken (1670-1733) in Auftrag gegeben Bau des in Dresden durch die Zwingerarchitektur bekannt gewordenen Architekten Matthäus Daniel Pöppelmann (1662-1736) zurück. In den 1720er Jahren ließ der sächsische Kurfürst und spätere König von Polen eine ältere Bebauung aus der Zeit der Renaissance abreißen und den heute als Wasser- und Bergpalais bekannten Schlossteil errichten, der im 19. Jahrhundert um das östliche gelegene Neue Palais ergänzt wurde. Umgeben ist die Schlossanlage von einem großzügigen Park, der unter anderem einen Englischen Pavillon und ein Palmenhaus beherbergt und auf diese Weise bis heute ‚exotische‘ Pflanzen und Staffagebauten unterschiedlichster Stile vereint.3 Im Folgenden stehen das zur Elbe hin ausgerichtete Wasserpalais und das als gestalterisch äquivalent zu sehende Bergpalais im Fokus [Abb. 1], die sowohl durch ihre chinoise Dachform als auch durch ihre bunte Fassadengestaltung den ‚exotischen‘ Charakter der Anlage und unsere Wahrnehmung bis heute maßgeblich prägen.

Exotismus in Kunst und Architektur, oder: Die Konstruktion eines Weltbildes

Der Ende des 17. Jahrhunderts aufkommende Exotismus oder der Stil der Chinoiserie, bezeichnet eine europäische Kunstform, die sich ‚chinesischer‘ ‚orientalischer‘ oder anderweitig ‚exotischer‘ Vorbilder bediente und diese nach freiem Belieben kombinierte und weiterführte.4 Die oftmals recht naive Begeisterung für das ‚Fremde‘ speiste sich – ausgelöst durch den beginnenden Orienthandel und den Kolonialismus – zwar aus einer kulturellen Wechselbeziehung; allerdings aus einer, die nicht von machtpolitisch gleichgestellten Partner_innen ausging, sondern von einem eurozentrischen Standpunkt.5 Ein Blick in die Literatur dieser Zeit offenbart ein erstes Problem: Zuschreibungen wie ‚chinesisch‘, ‚japanisch‘, ‚orientalisch‘ oder ‚indianisch‘ verschwimmen zu einer geographisch nicht verortbaren, ‚märchenhaften‘ Ferne. Der Bericht des niederländischen Weltreisenden Jan Nieuhof (1618-1672) über seine Fahrt mit der Ostindischen Gesellschaft nach China, der 1666 Jahren erstmalig in deutscher Sprache erschien, ist eines der erste Dokumente, das den Europäer_innen eine Vorstellung von der asiatischen Welt, ihren Bewohner_innen und ihrer Kultur vermittelte.6 Nichtsdestoweniger entnahm die/der abendländische Leser_in den Reiseberichten nur das, was ohnehin bestehenden Phantasien beflügelte: „Der ‚pittoreske‘ Reisende begab sich auf die Suche nach Bildern und nicht auf die Suche nach neuen Erkenntnissen.“7 Ein ähnlich freier Umgang mit ‚fremden‘ Vorbildern lässt sich auch bei Schloss Pillnitz finden: Weder Bauherr noch Architekt haben den asiatischen Kontinent mit eigenen Augen gesehen. Ihre Vorstellung von chinesischer Architektur und Kunst wurde beeinflusst durch die Motive der aus Asien importierten Seidenstoffe, Lackarbeiten, Tapeten und Porzellane. Weiterhin ist davon auszugehen, dass sowohl August der Starke als auch Matthäus Daniel Pöppelmann das 1721 erschienene Werk „Entwurff Einer Historischen Architectur“ des österreichischen Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723) gekannt haben, der erstmals den Versuch wagte, eine Weltgeschichte der Architektur zu schreiben.8 ‚Exotische‘ Formen eigneten sich allerdings nicht für jede Bauaufgabe: Als „Stile zweiter Klasse“9 degradiert, stellten die Exotismen eine Sonderform dar, die immer eine Ausnahme von den Regeln des Alltäglichen signalisierten. Schloss Pillnitz wurde von August dem Starken als exotisches Lust-Gebäude für ausladende Feste und Hochzeiten geplant und fügte sich somit nahtlos in diesen Rahmen ein.10

Die chinoise Fassadengestaltung des Wasserpalais

Dem von zwei Seitenpavillons gerahmten Mittelbau des Wasserpalais ist zur Hofseite hin eine von vier Säulen mit korinthischen Kapitellen getragene Eingangshalle vorangestellt. Das barock anmutende Mansarddach ist nach chinesischem Vorbild geschwungen, die Hohlkehlen unter der Dachtraufe mit asiatischen Szenen in Rot und Blau verziert und die Gestaltung der Fassaden erinnert durch ihrer blau-weiße Bemalung an chinesische Fayencekacheln [Abb. 2]. Eine genauere Betrachtung der Malereien zeigt allerdings, dass das von Asien vermittelte Bild eher einer europäischen Utopievorstellung als einer historischen Beschreibung gleicht: Die Malereien beschränken sich auf eine anekdotische Anhäufung vieler kleiner Einzelszenen ohne größeren ikonographischen Rahmen. Mehrere, durch ihre Kleidung als ‚asiatisch‘ gekennzeichnete Personen wandeln durch eine blühende Natur, bevölkert von Paradiesvögeln, Waldtieren und Drachen. Sie erfreuen sich unterschiedlichster Spiele und heiterer Beschäftigungen, die gleichzeitig von Unbeschwertheit und Geschick zeugen. Eine Szene zeigt drei Männer in weiten Gewändern – einer von ihnen trägt einen Turban – die unter freiem Himmel musizieren. Über ihren Köpfen schweben ein Schmetterling und ein Vogel mit prächtigem Federkleid [Abb. 3]. Der ‚ferne Osten‘ erstrahlt als maskiertes Arkadien und als ein „(vermeintlicher) Gegenentwurf“11 zur europäischen Realität. Gilbert Lupfer erklärt die asiatischen Verzierungen in diesem Zusammenhang als eine Ausflucht oder Negation der oftmals strengen höfischen Etikette und beleuchtet auf kritische Art das Verhältnis der europäischen Fürstenhöfe zu Ostasien.12 Dirk Welich deutet in seinem Aufsatz „Pillnitz – ein chinoises Gesamtkunstwerk“ die verwandten Chinoiserien als kurfürstliche Machtrepräsentation und benennt den Wunsch August des Starken, mit fernöstlichen Herrschern in Hinblick auf Macht und Würde vergleichbar zu sein, als Motivation für die exotische Formsprache der Pillnitzer Schlossanlage.13 Festzuhalten bleibt: „Exotismus setzt immer eine ethnozentrische Sichtweise voraus, die alles Fremde am eigenen Maßstab mißt.“14 Zwar entfaltet Schloss Pillnitz in diesem Rahmen auch heute noch eine ‚exotische‘ Wirkung. Im gleichen Zuge ist die chinoise Architektur allerdings als dezidiert europäisch zu klassifizieren, denn sie stellt vielmehr eine barocke Interpretation eines ‚asiatischen‘ Palastes dar.15 Das Wasser- und das Bergpalais sind nicht die einzigen chinoisen Bauten der Pillnitzer Anlage: Ab 1790 ließ Friedrich August III. (1750-1827), Ururenkel August des Starken, unter der Leitung von Christian Friedrich Schuricht (1753-1832) einen chinesischen Garten mit Pavillon errichten und verhalf der Chinamode zu einer erneuten Blüte.16 Auch wenn der kleine Pavillon am nördlichen Parkrand den Versuch einer möglichst getreuen Nachahmung chinesischer Vorbilder darstellt, müssen auch hier die kursächsischen Phantasievorstellungen vom ‚Märchenland‘ China mitgedacht werden. Gleichzeitig muss auch das Japanische Palais in der Dresdner Innenstadt, das ebenfalls eng mit dem Name August des Starken verknüpft ist, eine kurze Erwähnung finden: Ähnlich wie in Schloss Pillnitz ist das barocke Mansarddach chinoise geschweift und der Giebelfries mit Orientdarstellungen verziert [Abb. 4], deren ikonographisches Programm nicht nur einer eigenen, ausführlichen Auseinandersetzung bedürfte, sondern auch einer gezielten Dekonstruktion. Insgesamt erscheint eine kritische Kontextualisierung solcher baulichen Überlieferungen des europäischen Kolonialismus und die damit verbundenen Vorstellungen und Bilder in Dresden längst überfällig. Viel zu oft verfährt die populäre Literatur noch nach alten Mustern, die den „Mythos Dresden“ vielmehr bestärken als hinterfragen oder auch nur hinreichend beleuchten.17 Eine Ausnahme bilden hier die Aufsätze von Gilbert Lupfer und – in Teilen – die Dissertation von Gottfried Ganßauge. Genauso wenig finden sich Hinweisschilder am Pillnitzer Wasser- und Bergpalais, die die chinoisen Formen in den Kontext der konstruierten Utopievorstellungen ihrer Entstehungszeit bringen. Eine Sichtbarmachung solcher Sehgewohnheiten und Denkstrukturen könnte einen wichtigen Beitrag zu den alljährlich wieder geführten Debatten um die ‚Erinnerungskultur‘ in der ‚Barockstadt‘ Dresden leisten.

Johanna Hornauer

1http://www.schlosspillnitz.de/de/startseite/ (Zugriff am 15.01.2014).

2H.-G. Hartmann: Schloss Pillnitz. Vergangenheit und Gegenwart, Dresden 2008, S. 9.

3Vgl.: F. Löffler: Schloss und Park Pillnitz, Dresden 1951.

4A. Gruber: Chinoiserie. Der Einfluss Chinas auf die europäische Kunst 17.-19. Jahrhundert, Bern 1984, S. 7.

5S. Koppelkamm: Der imaginäre Orient, Berlin 1987, S. 22.

6Ebd., S. 11f.

7Ebd., S. 9 [Hervorhebung durch Autor].

8G. Ganßauge: Das Schloss Pillnitz als Beispiel für den chinesischen Einfluss auf die Baukunst Europas im 18. Jahrhundert, Dresden 1928, S. 4. Hier sei allerdings darauf hingewiesen, dass Fischer von Erlach selber nicht nach Asien gereist ist und seine Kupferstiche wahrscheinlich von Jan Nieuhof übernommen sind.

9S. Koppelkamm: Orient, S. 21. Für repräsentative Bauaufgaben, beispielsweise die Bauten der Dresdner Altstadt, wurden klassische Stile verwandt.

10Vgl.: G. Lupfer: „Weil es doch ein orientalisches Lust-Gebäude sein soll“. Exotische Anklänge in der Dresdner Schlossarchitektur des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 2002/2003, Dresden 2006, S. 110-118. Der Titel des Aufsatzes bezieht sich auf einen Briefwechsel zwischen August dem Starken und dem für das kursächsische Bauwesen verantwortlichen August Christoph von Wackerbarth und gibt in diesem Zusammenhang direkten Aufschluss über die Aufgabe und architektonische Konzeption der Pillnitzer Schlossanlage.

11S. Koppelkamm: Orient, S. 21.

12G. Lupfer: Anklänge, S. 112.

13D. Welich: Pillnitz – ein chinoises Gesamtkunstwerk, in: Dresden Hefte 96 (2008), H. 4, S. 30-39, hier: S. 32.

14S. Koppelkamm: Orient, S. 21.

15G. Ganßauge: Pillnitz, S. 8.

16H.-G. Hartmann: Pillnitz, S. 41.

17Vgl.: K.-S. Rehberg: Dresden als Raum des Imaginären. »Eigengeschichte« und Mythenbildung als Quelle städtischer Identitätskonstruktionen, in: Dresden Hefte 84 (2005), H. 4, S. 88-99.