Zur Geschichte der sogenannten Völkerschauen in Dresden
Kaum eine Phase der modernen (deutschen) Geschichte ist in ihrer Wirkung bis heute so ambivalent geblieben wie die des Kolonialismus. Nicht nur das gegenwärtige Machtgefälle zwischen ‚globalem Süden und Norden‘ findet seinen Ursprung in dieser Periode der europäischen Eroberungspolitik – auch gesellschaftliche Stereotype bauen vielfach auf den damals etablierten imperialen Rollenbildern auf. Gleichzeitig ist dieses Kapitel deutscher Geschichte nur rudimentär im Kollektiven Gedächtnis verankert. Dabei sind die Auswirkungen bis heute sichtbar, wie die postkoloniale Forschung aufzeigt. Die Etablierung und Legitimation gesellschaftlicher Phänomene wie Rassismus und Eurozentrismus, ist auf diese Phase europäischer und deutscher Politik zurückzuführen. Als die europäischen Regime die Welt unter sich aufteilten, schufen sie gleichzeitig eine (gewollte) Hierarchisierung von Menschen, an deren Spitze von nun an der ‚Weiße Mann‘ stehen sollte. In diesem Konstruktionsprozess wurden die kolonisierten ‚Anderen‘ von den ‚Weißen‘ zu Objekten degradiert, dessen Perversität seinen Höhepunkt in der Ausrichtung sogenannter Völkerschauen findet. Die kommerzielle Zurschaustellung von Menschen machte die propagierten Herrschaftsverhältnisse zugunsten der ‚Weißen‘ sichtbar und konstruierte damit Bilder von ‚Zivilisierten‘ und ‚Wilden‘ – von uns und den ‚Anderen‘.
Ferne Welten in Dresden
Dresden reiht sich ohne Abstriche in die Historie der „Völkerschauen“ im Deutschen Kaiserreich ein. Die sogenannten „anthropologisch-zoologischen Ausstellungen“ etablierten sich schnell als neue Form der Freizeitgestaltung; das Publikum entstammte allen Klassen der ständischen Gesellschaft. Als wichtigster deutscher Schausteller gilt der Hamburger Zoobesitzer und Tierhändler Carl Hagenbeck (1844-1913). Seine „Hagenbeckschen Völkerausstellungen“ erzielten im ganzen Kaiserreich hohe finanzielle und werbewirksame Gewinne. [Abb.1] Auch in Dresden zogen seine Aufführungen mehrfach Scharen von Besucher_innen an: „Tausende waren gekommen, um die Indianer zu schauen, aber wie groß auch der Vorführplatz ist, hunderte mußten wieder abziehen.“1 Seit dem ersten Auftritt der „kanadischen Indianer“ 1879 wurden in der Residenzstadt beinahe jährlich Schauen von und mit Menschen unterschiedlichster Herkunft veranstaltet. Zentraler Ort war dabei die sogenannte Völkerwiese im Dresdner Zoo, welche explizit für die Ausstellung von Menschen angelegt worden war. Nach einer „Samojeden-Ausstellung“ 1883 mit Menschen sibirisch-uralischer Herkunft, folgten zwei Jahre später Hagenbecks „Somali-Expedition“ und eine Gruppe „Bella-Coola-Indianer aus Nordwestamerika“. Ein reges Presseecho begleitete die Veranstaltungen, von kritischer Berichterstattung kann jedoch kaum die Rede sein. So auch 1886, als Rudolf Cronau (1855-1940) erstmals eine Gruppe „Sioux-Indianer“ in die Stadt [Abb. 2.] brachte:2 „Revolver und Gewehre krachen, Pulverdampf füllt die Luft. Ihr Kriegsgeschrei ausstoßend stürzt sich die wilde Schar auf den Wagen. Passagiere werden herausgerissen, scheinbar skalpiert. Wild peitscht der Rosselenker auf seine sich scheuend bäumenden Gäule, und im sausenden Galopp jagt das Gefährt davon [… ]. Es ist ein Bild, so malerisch, so aufregend, daß man förmlich vergißt, daß es nur Schein“ gewesen ist.3
Zwischen Angst und Faszination
Entgegen dem häufig betonten wissenschaftlichen Anspruch der Schauen zielte die Art und Weise der Präsentation klar auf die Sensationslust der Besucher_innen ab.4 Für sie hatten die „Völkerschauen“ doppelte Attraktivität: Einerseits wurde ihnen das vermeintlich alltägliche Leben außereuropäischer Völker vorgespielt Kochen, Pfeilschießen, Perlenstickereien. Jegliche öffentlichkeitswirksame Tätigkeiten mussten die Zurschaugestellten vor Publikum durchführen. Auf der anderen Seite waren es die aktionsreichen Shows, welche die Zuschauer_innen anzogen. Auch im Dresdner Zoo fanden dahingehend mehrmals täglich, teilweise absurd anmutende, Schauspiele statt. Gleichsam verfestigten die Spektakel die undifferenzierten Stereotype der „wilden Naturvölker“, wie eine zeitgenössische Darstellung der Dresdner Nachrichten zeigt: „Wie er die schlafenden Irokesen raubtierartig in ihren Zelten beschleicht, wie er das Mädchen packt, dann nach heißem Kampf von den Irokesen gefesselt und an einen Baum gebunden wird., wie er da, während die Feinde den Kriegstanz um ihn aufführen, alle Phasen der Wuth, der Angst, des Schmerzes zum Ausdruck bringt, wie er sich endlich losreißt, einen Irokesen niederschießt, ihn skalpiert, dann auf sein Pferd […] schwingt und im Sattel die tollsten Reiterkünste aufführt – das sind Bilder, die man so echt und lebhaft wohl nie wieder sieht. […] Originell ist auch die Bootsfahrt […] mit einem Boot, so dünn und leicht, dass es ein Mann allein in die Höhe heben kann. Zwei oder drei Irokesen fahren in dieser schmalen Nußschale pfeilschnell über den Ententeich.“5 So groß die Faszination dieser Schauspiele für die Dresdner_innen auch war, einhergehend mit dieser Darstellung war immer auch eine Aufwertung der eigenen „zivilisierteren“ Kultur. Das Animalische („der Irokese beschleicht raubtierartig“) und Unberechenbare („losreißen – niederschießen – skalpieren“) verdeutlichte auch den vermeintlichen Zivilisationsvorsprung. Lebensweisen, die in Europa durch Aufklärung und Modernisierung überwunden schienen, lebten in diesen Schauspielen erneut auf. Sie vermittelten so den Eindruck unterschiedlicher Entwicklungsstufen. Auch wenn sie als romantisch und naturverbunden wahrgenommen wurden, implizierten sie eine stetige gesellschaftliche Hierarchie, an dessen Spitze die europäische Kultur stand und steht.6
Eine Interaktion zwischen Zuschauenden und Zurschaugestellten fand kaum statt. Aus der Abgrenzungsbewegung zwischen ‚denen‘ und ‚uns‘ konnte sich der öffentliche Diskurs daher nicht lösen. Stattdessen etablierte sich die Vorstellung der eigenen politischen Machtposition, der sich vor allem auf der Zuschreibung von Rollenbildern gründete. Die Darsteller_innen wurden zu Objekten: Ein Konstruktionsprozess, der dem Rassismus bis heute zu Grunde liegt. Während individuelle Persönlichkeiten völlig in den Hintergrund treten, repräsentierten die Ausgestellten ganze Gruppen von vermeintlichen Ethnien, Völkern oder „Stämmen“. Es ist ein Grundgedanke des Kolonialismus, welcher hier zum tragen kommt: Die anderen werden zu ‚Anderen‘ gemacht, indem sie zu einer einheitlichen Gruppe homogenisiert und auf bestimmte Merkmale reduziert werden. Dieser Prozess des „Othering“ ist auch heute Grundlage des latenten Rassismus, der stetig reproduziert wird.7 Mit Realität hat(te) das in der Regel wenig zu tun, stattdessen wird geliefert, was die Zuschauer_innen sehen wollten: Wildheit, Erotik, Natur – hübsch verpackt und unreflektiert. Die sogenannten Völkerschauen spiegeln dahingehend viel stärker die westliche Kultur wider, als die außereuropäische, welche sie nur künstlich konstruieren. Eigene Identität und Imagination der ‚Anderen‘ sind eng miteinander verbunden.8 Ein Miteinander schien kaum möglich, dafür wurden die Unterschiede zu eindringlich propagiert, Zäune und Absperrungen machten das unmissverständlich deutlich. Es ist die Sichtbarwerdung des globalen Machtgefüges im Alltag: Besatzer_innen und Kolonisierte – ‚Weiß‘ und ‚Schwarz‘.9
Wilder Westen und dunkles Afrika
„Eine historische Sehenswürdigkeit“ sollte Dresden 1890 erwarten: „Buffalo Bills Wild West Show“hatte es endlich in die Residenzstadt geschafft. „Eine wahre Völkerwanderung setzte sich nach der Pirnaischen Vorstadt in Bewegung. […] Alle Klassen unserer Bevölkerung waren vertreten.“10 Für das heiß erwartete Spektakel wurde auf dem Turnfestplatz, nahe dem heutigen Straßburger Platzes eine extra angefertigte 3500 qm Arena aufgebaut. 10.000 Menschen sollten hier Platz haben. Ein Extrazug mit 35 Wagen brachte am 31. Mai 1890 eine Gruppe aus Menschen unterschiedlichster Herkunft und zahlreichen Tieren nach Dresden. Die Show bot dem Dresdner Publikum alles, was der stereotype „Wilde Westen“ beinhaltete: Die Zähmung wilder Pferde und Büffel, Lassospiele, Jagdszenen und Überfälle. Bezeichnend für derartige „Wild West Shows“ ist der oftmals pompöse Charakter der Vorstellungen. Das Motto: Europäische Siedler_innen bezwingen die amerikanische Wildnis.11 Auch in den „Buffallo Bill Show“dominiert ein rassifiziertes Bild vom „gefährlichen Wilden“. Der Überfall einer Gruppe „Indianer“ auf einen Auswandererzug ist einer der Showhöhepunkte. Vermeintlich wissenschaftlich begründet, festigen sich dadurch diverse „Eingeborenentypen“ als Klassifizierung außereuropäischer Völker. Sie rangieren zwischen dem Bild des „unberechenbaren Kriegers“ bei Buffallo Billund dem „edlen Wilden“, wie wir ihn bei Jean Jaques Rousseau oder Karl Mayfinden. Doch trotz unterschiedlicher Herangehensweise, implizieren beide Konstruktionen eine Überlegenheit europäischer Kultur. Karl May soll übrigens über die Darstellung der „Indianer“ in „Wild West Shows“ entsetzt gewesen sein, wünschte er sich doch fremdenfeindliche Ressentiments abzubauen und damit die „Blutrünstigkeit auswischen [und] den roten Mann als sympathisch hinzustellen.“12 Zwar versuchte May in seinen Erzählungen oft die Schönheit und Ehre der ‚fremden Völker‘ zu beschreiben. Hinsichtlich seiner Darstellungen bediente er sich aber ebenso rassistischer Kategorisierung, im Jahr 1889 beschrieb er das „Straußenreiten der Somal“ auf der Dresdner Völkerwiese mit den Worten: „Der Somali ist keineswegs ein N*, er steht nach seinem physischen Typus zwischen dem Araber und dem Schwarzen. Sein Bau ist schlank und zierlich, seine Stirn groß, sein Auge schön, die Nase fein und die Lippe zwar aufgeworfen, aber wenig vorspringend.“13
Erfolg und Ende einer Branche
Die Zurschaustellung „fremder“ Kulturen war auch in Dresden, gleich anderen Großstädten, um die Jahrhundertwende eine etablierte Größe im Ausstellungsgeschäft. Für die Veranstalter_innen konnte eine erfolgreiche Show enorme finanzielle und werbeträchtige Gewinne mit sich bringen. Neben Zoo und Zirkus spielten „Völkerausstellungen“ auch auf diversen Messen eine wesentliche Rolle. Das „exotische Flair“ garantierte das Interesse eines breiten Publikums. So setzte auch die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911, die bis dahin mit 5,2 Millionen Besucher_innen am stärksten besuchte Ausstellung der Stadt, auf deren Anziehungskraft.14 [Abb.3] Die „Völkerschauen“ fanden auch in Dresden ihr Ende erst in der Zeit des Nationalsozialismus. Während von 1935 bis 1940 noch die „Deutsche Afrika-Schau“ durch das Dritte Reich tourte, führte unter anderem das Verbot des „Auftretens schwarzer Menschen“ von 1939 zur Einstellung der Schauen.
So allgegenwärtig die „Völkerschauen“ um die Jahrhundertwende für die Dresdner_innen waren, so wenig präsent scheinen sie heute im Gedenken an die Zeit des Kolonialismus zu sein. Obwohl die Liste derartiger Veranstaltungen in Dresden nicht minder lang ist als in anderen deutschen Großstädten, fehlt eine öffentliche Auseinandersetzung der Stadt völlig. Einzig im Dresdner Zoo findet sich eine Skulptur, die auf den offen praktizierten Rassismus der Schauen hinweist – deren Hintergrund jedoch gleichsam nur durch selbstständiges Weiterfragen erkennbar ist. Dabei ist unser nationales Selbstverständnis intensiv durch den Raubzug der europäischen Kolonialmächte geprägt. Noch immer herrscht in weiten Teilen der westlichen Gesellschaft eine Abgrenzungshaltung zu den Ländern des ‚Globalen Südens‘ vor. Noch immer befinden wir uns in einer dominanten Machtstellung und profitieren, durch die vom Globalen Norden geschaffenen Abhängigkeiten, täglich von ihr. Die Voraussetzungen für dieses Machtgefüge schuf der die Kolonialpolitik, indem sie die Welt aufteilt(e) und mit Wertigkeiten versetzt(e). Die „Völkerschauen“ sind Sinnbild dafür, wie aus Einer Welt Drei konstruiert worden (und werden) – und aus einer Menschheit Menschenrassen.
Sophie Kempe
1 Dresdner Nachrichten Nr. 196 vom 15.07.1879, S. 2.
2 K. Hoffmann: Circensische Völkerschauen und exotische Abenteuerliteratur in Dresden, in: Dresdner Hefte (1989), Heft 5, S. 68-76.
3 Allgemeine Illustrierte Zeitung 28 (1885/1886), Nr. 50, S. 1077.
4 A. Rüth: Auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur. Eine Untersuchung zum antizivilisatorischen Aspekt im deutschen Expressionismus am Beispiel der Künstlergruppe „Brücke, Masch. Diss. 2008, S. 126.
5 Dresdner Nachrichten Nr. 186 vom 05.07.1879, S. 1.
6 „Das ist die echte orientalische Gastfreundlichkeit.“ Zum Konzept kolonisierbarer, nicht kolonisierbarer und kolonisierender Subjekte bei Karl May, in: Kulturrevolution (1995), Nr. 32/33, S. 99-104.
7Glokal e.V. (Hg.): Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet, Berlin 2013, S. 14.
8 M. Fiedler: Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2005, S. 294f.
9 L. Bilgic/M. Fabian/C. Schwetasch/R. Stock: Dresdner Orientalismus, in: R. Lindner/J. Moser (Hg.): Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenzstadt, Leipzig 2006, S. 207-236, hier: S. 208.
10 Dresdner Nachrichten Nr. 157 vom 06.06.1890, S. 2.
11 Vgl. K. Hoffmann: Circensische Völkerschauen, S. 73.
12 Ebd., S. 76.
13 K. May: Das Straußenreiten der Somal, in: Der Gute Kamerad 4 (1889), Nr. 13, S. 175-177, hier: S. 174.
14 Vgl. K. Vogel/C. Wingender: „… deren Besuch sich daher unter allen Umständen lohnt.“ Die I. Internationale Hygiene-Ausstellung 1911, in: Dresdner Hefte (2000), Nr. 63, S. 44-52.