Fremdes zur Unterhaltung

Konstruierte Wildheit im Zirkus Sarrasani

Seinen Ursprung hat das Zirkuswesen im Vorführen von Reitkunststücken in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese Reitervorstellungen erfreuten sich in England großer Beliebtheit und verbreiteten sich durch Gastspiele auch auf dem Kontinent. Nach und nach wurden diese Vorstellungen durch Jahrmarktsattraktionen ergänzt und das Angebot wurde vielfältiger. Eine dieser Attraktionen war das Ende des 18. Jahrhunderts beim Publikum beliebte Genre der Seefahrer_innen- und Indianer_innenstücke, welches das Aufeinandertreffen der europäischen Entdecker_innen mit den amerikanischen Ureinwohner_innen thematisierte. Letztere wurden dabei von kostümierten Schausteller_innen gespielt. Auch dies wurde ins Programm des Zirkus übernommen und so prägten bald Artist_innen in fremdländisch wirkenden Kostümen sein Erscheinungsbild. Sie bedienten die Neugier des Publikums auf alles Fremde und Exotische in einer Zeit, in der selbst kleinere Reisen ein großes Abenteuer waren. Im Zuge der europäischen Kolonialpolitik änderte sich diese Praxis. Die fantasievoll kostümierten Zirkusartist_innen wurden zunehmend durch „echte Exot_innen“ aus Nordafrika, Indien, Japan und China ergänzt. Ebenso wurde mit dem massenhaften Import exotischer Tiere aus den Kolonien begonnen. Seither gehören Raubkatzen- und Elefantendressur fest ins Zirkusrepertoire.1 In diese Tradition des Ausstellens exotischer Tiere ordnet sich auch die Entstehung der Zoologischen Gärten ein.

„Die Indianer sind da!“

Auch aus dem Dresdner Zirkus Sarrasani sind die Elefanten nicht wegzudenken. Sie machten ihn berühmt und wurden sein Markenzeichen. Fünf Elefanten stapfen um den Zirkusbrunnen [Abb. 1] in der heutigen Sarrasanistraße und erinnern an das erfolgreiche Zirkusunternehmen und seinen festen Bau. [Abb. 2] Dieser Monumentalbau wurde im Dezember 1912 als „Circus der 5000“ eröffnet und im Februar 1945 zerstört. [Abb. 3] Auch das Familiengrab auf dem Urnenfriedhof Dresden-Tolkewitz zieren zwei Elefantenköpfe. [Abb. 4] Neben der Zurschaustellung der exotischen Dickhäuter wurden die Indianer_innen2 zum zweiten Markenzeichen des Zirkus Sarrasani. [Abb. 5] Für Direktor Hans Stosch-Sarrasani „bedeuteten sie ein letztes Stück Romantik“.3 Angeregt durch die in jener Zeit gern gelesenen Abenteuerromane des Radebeulers Karl May „sann Stosch darauf, Winnetou und die anderen Helden der Prärie in seinen Shows lebendig werden zu lassen.“4

Bereits 1906 war der Sioux „Black Elk“, der mit „Buffalo Bill’s Wild West-Show“ ins Deutsche Reich gekommen war, Teil des Zirkusprogrammes Sarrasanis. [Abb. 6] Ungleich mehr Aufmerksamkeit erregte aber die erste Sioux-Gruppe, zu der auch Edward Two-Two gehörte. Am 14. März 1913 wurden die amerikanischen Ureinwohner_innen unter großem Aufsehen „wie die Abordnung eines exotischen Königreiches“ in Dresden empfangen.5 „Die Indianer sind da!“ titelte am nächsten Tag der Dresdner Anzeiger und beschrieb ihren Einzug durch die Hauptstraße der Stadt als ein „farbenprächtiges Bild: Voran die Cowboys […], dann die Indianerschar in bunten Gewändern, im rabenschwarzen langen Haar vielfarbigen Federschmuck, das Gesicht, dessen Mienen beinahe verächtlich auf die Scharen zu ihren Füßen zu blicken schienen, mit gelber Farbe überzogen“.6 Sarrasani bewarb die Auftritte der Indianer_innen als „exotisches Schaustück“, welches die „Romantik des wilden Westens“ wach zaubere und „eine naturgetreue wissenschaftlich nachprüfbare Wiedergabe des Lebens und Treibens in der Prärie, echt bis in die äußerste Kleinigkeit hinein“ zeige.7 [Abb. 7]

Auch die Presse stimmte ein Loblied über das ‚Wild-West‘-Schaustück an, welches die „allgemein ziemlich hochgespannten Erwartungen noch übertroffen“ habe. Hoch bewertet wurde das „absolut stilechte Bild der Prärie“ und „die Echtheit der Mitwirkenden und der Ausstattung“, die „dem Stück einen gewissen völkerkundlichen Wert“ gaben.8 Die Betonung der „Wissenschaftlichkeit“ und „Authentizität“ des Dargebotenen, sowie das Unterstreichen seines bildenden Charakters entsprachen der zeitgenössischen Stimmungslage und fanden sich auch bei den zu jener Zeit ebenfalls durchgeführten Völkerschauen. Dass es dabei nicht um das Wiedergeben der realen Lebenssituation fremder Völker ging, sondern um die Inszenierung eines imaginierten Klischeebildes derselben, welche der Zuschauer als „authentisch“ empfinden sollte, zeigt der folgende Absatz.

„Echte“ und „Falsche“ Indianer_innen

Ebenso verdeutlichen diese Beschreibungen eindrucksvoll, welches Indianer_innenbild in der Bevölkerung vorherrschte. Wildwestromane, die sich zu dieser Zeit größter Beliebtheit erfreuten, sowie das aufkommende Genre der Westernfilme9 hatten die romantische Vorstellung vom freien und stolzen indianischen Leben in die Welt getragen. Doch mit dem romantischen Traumbild des „edlen Wilden“ hatten die engagierten nordamerikanischen Ureinwohner_innen wenig gemein. Und auch mit ihrer vielgepriesenen „Echtheit“ – was letztlich nur bedeutete, dass sie dem gängigen Klischeebild vom „echten Indianer“ entsprechen sollten – war es nicht weit her. So berichtet Sarrasanis langjähriger Pressechef August Heinrich Kober in seinen Lebenserinnerungen: „Die Indianer also […]: sie waren wirklich echt! Aber sie waren alles andere als die Helden unserer Indianergeschichten. Drüben in Amerika leben sie unter Naturschutz, sie bekommen eine staatliche Rente […]. Und so sahen sie auch aus, wenn sie bei uns ankamen: verfettete, phlegmatische Herren.“ Enttäuscht musste Kober feststellen, dass die engagierten Ureinwohner_innen „genauso harmlos und unromantisch wie jeder andere Amerikaner“ waren. Aus ihnen mussten also erst einmal „echte Indianer“ gemacht werden. Daher sollte Sarrasanis Agent in den USA „auch alles mitbringen, was nach Karl May zu einem richtigen Indianer gehört, also: Federschmuck, Perlstickereien, Lederhosen, Tomahawks, Pfeil und Bogen, Zelte, Lagerfeuer.“ Zusätzlich vergab Sarrasani „echte“ Indianernamen wie „White Eagle“ oder „Big Snake“ und machte „den, der am ältesten aussah“ zum Häuptling.10 Bemerkenswert an diesem Bericht ist nicht nur das Eingeständnis der Konstruiertheit des vorherrschenden Indianer_innenbildes, sondern vielmehr das völlige Ausblenden der Ursachen für die veränderte und für Kober so ernüchternde Lebensrealität der indigenen Völker Nordamerikas.

Aber das Publikum sollte schließlich nicht enttäuscht werden. So war das Schaustück „Wild-West“ auch kaum auf Überraschungen ausgelegt. Jede/r Wildwestliteraturliebhaber_in fand alle Klischees bestätigt, wenn die Indianer die Postkutsche überfielen, eine Frau entführten und schlussendlich nach einer von ‚Gewehrgeknatter‘ begleiteten Verfolgungsjagd den Cowboys unterlagen.11[Abb. 8] Wie wichtig es für den finanziellen Erfolg solch einer Schau war, dass sich die verbreiteten Vorstellungen darin wiederfanden, zeigte die Ausstellung einer Gruppe vom Stamm der „Bella Coola“ (Nuxalk), die 1885 unter anderem auch in Dresden gezeigt wurde. Die Besucher_innen waren enttäuscht, weil diese nordwestamerikanischen Ureinwohner_innen in ihrem Aussehen so gar nicht den Erwartungen entsprachen – „sie sahen überhaupt nicht aus wie ‚Indianer‘“.12 Die Schau wurde ein finanzieller Misserfolg.13

Inszenierung als Selbstverwirklichung

Trotz aller Inszenierung bot sich den amerikanischen Ureinwohner_innen in diesen Schauen auch die Möglichkeit, ihre Traditionen zu leben und stolz auf ihre Herkunft zu sein. Sie wurden aus ihrem katastrophalen, repressiven Leben in den Reservaten heraus für die Völkerschauen rekrutiert, mit Indianer_innenkleidung und Federschmuck ausgestattet und ausgestellt. Zwar war das Bild vom indianischen Leben, welches sie in diesen Schauen vermitteln sollten, lediglich ein Konstrukt der Europäer_innen. Aber die Inszenierungen dieses Bildes scheinen nicht nur die Illusionen der Betrachter_innen bedient zu haben, sondern mitunter ebenso die der engagierten Ureinwohner_innen selbst. So empfand der bereits genannte Edward Two-Two das Engagement am Zirkus Sarrasani offenbar auch als Möglichkeit zur Flucht vor seiner tatsächlichen Lebenssituation. Das Leben als Traumbild der europäischen Sehnsüchte war ihm wohl lieber als das unfreie Leben in seiner Heimat, zu dem ihn die weißen Siedler_innen gezwungen hatten. Das ging so weit, dass er schriftlich erklären ließ, er wolle in Dresden begraben werden, weil die Stadt seine zweite Heimat geworden und die ‚Sarrasani-Sioux-Schau‘ dort beheimatet sei.14 Sein Grab befindet sich noch heute auf dem Neuen Katholischen Friedhof. [Abb. 9]

Bis heute

Wie vital der Exotismus auch heute noch ist, zeigt sich in einer Ankündigung zur neunten Spielzeit des Sarrasani Trocadero Dinner-Variétheaters vom November 2012. In dieser wurde mit einem „waschechte[n] Sioux-Indianer“ geworben, der gemeinsam mit seinem Sohn „einen Teil seiner jahrhundertealten Kultur nach Dresden“ bringen sollte. „Dass in ihren Adern reines Indianerblut fließt, spürt der Zuschauer an ihrer ursprünglichen Authentizität und ihrer fast greifbaren Spiritualität“.15Am verklärten Bild des stolzen Indianer_innentums hat sich also wenig geändert. Ebenso sind die Lebensbedingungen der amerikanischen Ureinwohner_innen in den Reservaten noch heute prekär. Verwiesen sei an dieser Stelle aber auch auf eine Ausstellung der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die vom 1. Oktober 2013 bis 2. März 2014 im Albertinum zu sehen war. Die Sonderausstellung „Tecumseh, Keokuk, Black Hawk. Indianerbildnisse in Zeiten von Verträgen und Vertreibung“ zeigte einen Großteil der „Indianerskulpturen“ des Dresdner Bildhauers Ferdinand Pettrich. Diese entstanden um 1850, zu einer Zeit, in der die europäischen Siedler_innen immer weiter in den nordamerikanischen Westen drängten und die Ureinwohner_innen zunehmend aus ihrem Land vertrieben. Die Ausstellung würdigte dabei nicht nur den künstlerischen Wert der Exponate, sondern hatte es sich außerdem zum Ziel gemacht, sie in den historischen Kontext einzuordnen und diesen näher zu beleuchten.16 Hier fand demnach der Versuch der Dekonstruktion der Bilder des 18. und 19. Jahrhunderts statt, welcher auch an anderer Stelle wünschenswert und zeitgemäßer erscheint.

Anna Schrötter

 

1 Vgl. C. Schmitt: Artistenkostüme. Zur Entwicklung der Zirkus- und Varietégarderobe im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 42, 73, 75, 101.

2 Wenn im Folgenden für die ersten Amerikaner_innen abwechselnd die Bezeichnungen „amerikanische Ureinwohner_innen“ und „Indianer_innen“ verwendet werden, so gilt, dass mit ersterem Begriff die Angehörigen der indigenen Völker Nordamerikas bezeichnet werden (ausgenommen Völker der arktischen Gebiete sowie der amerikanischen Pazifikinseln). Der Begriff „Indianer_innen“ bezieht sich dagegen auf das konstruierte Bild, das die Europäer_innen von diesen Menschen hatten und haben.

3 A.H. Kober: Ich wanderte mit dem Zirkus, Frankfurt/M. 1958, S. 154.

4 E. Günther: Sarrasani. Geschichte und Geschichten. Edition Sächsische Zeitung, Dresden 2005, S. 26.

5 Ebd., S. 27.

6 Die Indianer sind da!, in: Dresdner Anzeiger, Nr. 73 vom 15.03.1913, S. 7.

7 Inserat „Wild-West“, in: Dresdner Nachrichten, Nr. 91 vom 03.04.1913, S. 20.

8 Die Erstaufführung von „Wild-West“ im Zirkus Sarrasani, in: Dresdner Nachrichten, Nr. 95 vom 07.04.1913, S. 2 f.

9 Vgl. D. Göktürk: Neckar-Western statt Donau-Walzer. Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer im frühen Kino, in: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 2, 1993, S. 118 ff.

10 A.H. Kober: Zirkus, S. 152 f.

11 Vgl. Wild-West, in: Dresdner Volkszeitung, Nr. 78 vom 07.04.1913, S. 6.

12 W. Haberland: Nine Bella Coolas in Germany, in: C.F. Feest (Hg.): Indians and Europe. An Interdisciplinary Collection of Essays, Aachen 1989, S. 361 (Übersetzung der Verfasserin).

13 Vgl. ebd. S. 356.

14 Vgl. H. Stosch-Sarrasani: Durch die Welt im Zirkuszelt, Berlin 1940, S. 54.

15 Zeitreise durch eine magische Welt: 24 internationale Künstler inszenieren Sarrasani-Geschichte, in: http://www.sarrasani.de/presse/details/zeitreise-durch-eine-magische-welt-24-internationale-kuenstler-inszenieren-sarrasani-geschichte/ [aufgerufen am 13.12.13].

16 Tecumseh, Keokuk, Black Hawk. Indianerbildnisse in Zeiten von Verträgen und Vertreibung, in: http://www.skd.museum/de/sonderausstellungen/tecumseh-keokuk-black-hawk/ [aufgerufen am 18.01.14].